Liebe Wissenschaftler:in,

ich wollte fragen, ob man in der Schweiz tatsächlich das Recht auf Verwahrlosung hat.

Gibt es auch ein Recht auf Verwahrlosung im Betreuungskontext?

Vielen Dank für Ihre Antwort.

Autonomie

Wenn eine Person volljährig ist und weiss, was sie tut, würde ich ihr ein Recht auf Verwahrlosung zugestehen. Diese Haltung basiert auf keiner festgeschriebenen Rechtsnorm, ein Recht auf Verwahrlosung gibt es in diesem formalen Sinn also nicht. Es lässt sich aber aus anderen Normen ableiten. Am wichtigsten ist das Recht auf Selbstbestimmung und persönliche Autonomie. Es wird durch die Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wie auch von der Schweizerischen Bundesverfassung geschützt. In der Sozialen Arbeit ist es ein wichtiger berufsethischer Grundsatz: Ich kann meine Unterstützung niemandem aufdrängen, der oder die das nicht will.

Ausnahme: Akute Gefährdung

Ausnahmen sind möglich, wenn eine Person durch ihr Verhalten sich selbst oder andere akut gefährdet. Ich könnte also beispielsweise eine Person gegen ihren Willen von einem Suizid abhalten, wenn ich davon ausgehen muss, dass sie das möglicherweise gar nicht wirklich will, im Affekt handelt oder nicht einschätzen kann, was sie da gerade tut. Wenn diese Person sich ihren Sterbewunsch aber gut überlegt hat, bei Sinnen ist und von niemandem beeinflusst wird, dann hat sie das Recht, sich umzubringen. Darauf basiert die Sterbehilfegesetzgebung in der Schweiz.

Fürsorge und Zwang

Mit der Verwahrlosung ist es etwas komplizierter, weil das ein höchst subjektiver Begriff ist: Wie lange darf eine Person nicht duschen, sich die Zähne nicht putzen, die Kleider nicht wechseln, sich ungesund ernähren, ihr Zimmer nicht aufräumen und putzen, falls sie eines hat, keine sozialen Kontakte pflegen, sich mit Alkohol, Drogen oder Medikamenten zudröhnen, sich vielleicht sogar einnässen und keine Hilfe suchen oder annehmen? Früher wurde in solchen Fällen viel schneller Zwang angewendet, heute wird die Selbstbestimmung sehr hoch gewichtet. Wenn beispielsweise ein obdachloser Mensch in keine Notunterkunft gehen und draussen übernachten will, er auch weiss, was er tut, in keinem psychischen Ausnahmezustand ist und andere nicht belästigt oder bedroht, hat niemand das Recht, ihn irgendwo einzusperren. Früher war das möglich.

Grauzonen

Es gibt aber auch heute noch Grauzonen: Darf eine Institution eine geistig behinderte Person, die nicht sagen kann, was sie will, jeden Morgen unter die Dusche stellen lassen, obwohl nonverbal erkennbar ist, dass sie dies nicht möchte? Aus meiner Sicht ist das unethisch.

Ein anderes Beispiel: In einer Gassenküche werde ich Menschen das Essen nicht verweigern, nur weil sie ungewaschen sind und nicht so gut riechen. Natürlich kann ich ihnen empfehlen, wieder einmal zu duschen. Wenn sich aber jemand einnässt, werde ich diese Person aus hygienischen Gründen bitten, sich vor dem Essen zu waschen und die Kleider zu wechseln.

Ein weiteres Beispiel: Wenn eine Person eine Überdosis Drogen nimmt, muss ich natürlich erste Hilfe leisten, damit sie nicht stirbt. Falls sie den Drogenkonsum reduzieren oder stoppen möchte, helfe ich ebenfalls. Wenn sie aber einfach Drogen nehmen und in Ruhe gelassen werden will, muss ich diesen Entscheid respektieren, obwohl sich diese Person damit selbst schadet. Auch wenn es mich möglicherweise schmerzt, nichts zu tun können.

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