Liebe Forscher·innen, ich habe eine Frage zum Thema Zollpolitik. Die US-Regierung erhebt derzeit hohe Zölle auf Importe aus diversen Ländern. Warum reagieren so wenige der betroffenen Länder mit Gegenzöllen? Warum werden Gegenzölle offensichtlich nicht als gangbare wirtschaftspolitische Reaktion betrachtet? Vielen Dank für die Antwort!

Zur Beantwortung dieser Frage bietet sich zunächst eine politikwissenschaftliche Analyse aus zwei Perspektiven an. Die eine Perspektive ist der Strömung des «Realismus» zugeordnet. Hier geht es um Macht, «rationale» bzw. nationale Eigeninteressen und Pragmatismus. Die andere Perspektive ist dem «Idealismus» zuzuordnen; hier geht es mehr um politische Vernunft, Diplomatie und Gemeinwohl.

1. Realismus

Machtpolitisch muss sich jedes Land, welches von den US-Zöllen betroffen ist, die Frage stellen, was es der Weltmacht USA entgegenhalten kann. Obwohl wir in der Schweiz vom 39%-Zoll überrascht wurden, lässt sich die Einseitigkeit leicht erklären. Der Stärkere tut, was er tut, weil er es tun kann. Der Schwächere muss sich fügen. Diese Logik erklärt auch, warum China bisher das einzige Land ist, das Gegenzölle erhoben und aufrechterhalten hat. China kann das tun, weil es dazu kräftemässig (ökonomisch und militärisch) in der Lage ist. Der Ökonom Mathias Binswanger nimmt eine «realistische» Perspektive ein, wenn er sagt, er finde die neue US-Politik unter Donald Trump gewissermassen «ehrlich» (Blick, 5.4.25):

«Wir sollten aufhören, so zu tun, als ob Handel immer nur von einem rationalen, ökonomischen Gesichtspunkt aus gesteuert würde. Handelspolitik ist immer auch Machtpolitik. Wir haben das lange ignoriert. Die USA haben sich auch vor Trump über diverse internationale Verpflichtungen hinweggesetzt, auch im Handelsbereich. Trump macht dies jetzt mit einer neuen Unverfrorenheit».

Die Schweiz findet sich also in einer Position der Schwäche. Sie hat bisher versucht, sich dem Stärkeren gegenüber so zu verhalten, dass er möglichst wenig schadet (Zugeständnisse, Gegenleistungen, Versuch, den anderen von Win-Win-Möglichkeiten zu überzeugen). Die Alternative ist, sich mit anderen stärker zu verbünden. Naheliegend ist, die Kooperation mit der EU nun doch zu vertiefen, wenngleich Europa schwächer ist als die USA. China, die derzeit einzige Kraft, die Paroli bieten kann, ist für viele aufgrund ideologischer Differenzen bisher keine Alternative.

2. Idealismus

Der (bisherige) Verzicht auf Gegenzölle seitens der Schweiz kann auch im Hinblick auf das (Welt-)Gemeinwohl ihren Grund finden. Was derzeit allgemein kritisiert wird, ist der drohende Rückfall in ein altes «merkantilistisches» Modell der Weltwirtschaft, das vom «Nullsummenspiel» ausgeht: was der eine gewinnt, verliert der andere. Befürchtet wird das Ende von Globalisierung und Freihandel, die auf der Idee von Win-Win-Situationen aufbauen: beide bzw. alle können gewinnen.

OECD, EU, EFTA, BRICS, ASEAN usw. stehen für internationale oder supranationale Wirtschaftsübereinkünfte, die Handelsschranken abbauen, um den allgemeinen wirtschaftlichen Wohlstand zu fördern. Damit verbunden ist oft die Idee, dass auf wirtschaftliche Zusammenarbeit weitere politische Kooperation folgt (Spillover-Effekte) und somit internationaler Frieden gefördert wird. Manche möchten wohl den Freihandel nicht durch Gegenzölle weiter beschädigen; der Verzicht wirkt deeskalierend und konfliktmässigend. Diese Haltung hat ethisches Gewicht, muss aber nicht immer die beste politische Option sein (vgl. Appeasement-Politik gegenüber Hitler im 2. Weltkrieg). 

Nicht zuletzt ist auch zu bedenken, dass Zölle dem eigenen Land schaden können. Konsumenten müssten für die mit Zöllen belasteten Produkte entsprechend mehr bezahlen. Das fügt dem nationalen Gemeinwohl weiteren Schaden zu. Dass Donald Trump seinerseits keine Rücksicht auf den Schaden nimmt, den er seiner eigenen Bevölkerung zufügt, ist der erwähnten «neuen Unverfrorenheit» seines Verhaltens geschuldet. Diese Irrationalität, die auch seine Anhängerschaft auszeichnet, ist letztlich nur psychologisch zu erfassen. Ich empfehle hierzu die Lektüre von Stephan Marks zur Psychologie der Scham (2024).

3. Nation vs. Staat: Kann es einen Weltstaat geben?

Der Ökonom Hans Christoph Binswanger (1939–2018), Vater des erwähnten Mathias Binswanger, hat Wichtiges zur Zukunft internationaler Politik überlegt. Der heutige Nationalstaat erscheint als Hybrid zwischen altem, Gruppen-egoistischem Stammesdenken (Nation) und neuer, auf die Allgemeinheit orientierter politische Vernunft (Staat). Wo Stammesdenken herrscht, stehen sich enge Werte-Gemeinschaften potenziell feindlich gegenüber. Moderne Staatlichkeit hingegen führt um des Friedens willen Gesetze ein, die allgemein akzeptabel und nützlich erscheinen. So drängt die Friedenslogik zum Weltstaat mit einer Weltinnenpolitik. Unterstützt wird dies durch die Marktlogik, die eine Gewinnmaximierungslogik ist. Sie strebt nach der Beseitigung nationaler Währungen und dem Abbau von Handelsschranken (Zölle).

Der Weltstaatlogik steht aber einiges entgegen. Die demokratische Legitimierung eines solchen Weltstaats ist kaum zu haben. Ein funktionierendes Weltparlament würde bedeuten, dass ihre Mitglieder jeweils Millionen von Menschen vertreten. Trotzdem ist ein so föderal strukturierter Weltstaat denkbar, mit Weltregierung, Weltparlament, Weltgerichtshof. Wie dieser Staat in Funktion gesetzt würde, ist (noch) nicht absehbar.

Naheliegender ist die imperiale Einsetzung eines Weltstaats durch eine Weltmacht. Hier sieht Hans Christoph Binswanger zwei Kandidaten mit unterschiedlichen Ansätzen. Nicht erst 2016 galt bereits, was Binswanger damals schrieb:

«Wenn wir heute die Nachrichten verfolgen, wird deutlich sichtbar, dass die USA ihre Aussenpolitik bereits in gewissem Ausmass als Weltinnenpolitik, das heisst ihre Gesetzgebung als den Gesetzgebungen der übrigen Länder übergeordnet betrachten und den Weltstaat sozusagen vorwegnehmen.» (S. 174)

Zumindest heute scheint sich die USA von der Weltstaatsidee teilweise zu verabschieden und sich eher als Nation statt als Staat zu begreifen. Überdies steht ihr unterdessen die chinesische Weltstaatsidee gegenüber:

«China hat sich seit jeher als «Reich der Mitte» und alle Menschen in der Welt im Prinzip als Angehörige dieses Reiches betrachtet. Menschen, die diesen Status nicht anerkannten, galten entweder als solche, die dies (noch) nicht wissen, oder als solche, die dagegen opponieren, also Rebellen sind.» (ebd.)

Was sich aus dieser Spannung ergeben wird, bleibt offen.

4. Sinnvolle Begrenzungen zugunsten der Ökologie

Und um zur Eingangsfrage zurückzukommen: Man mag froh sein, wenn Gegenzölle vermieden und Konflikte geschlichtet werden. Unter dem Eindruck des Zollkonflikts, aber auch der Kriege im Nahen Osten und der Ukraine, dürften viele dem Idealismus zugeneigt sein: Diplomatie, Beilegung von Handelsstreitigkeiten, internationale Abkommen und weitere Schritte auf dem Weg zum (föderalen) Weltstaat scheinen Gebote der Stunde.

Allerdings hat die angestrebte Grenzenlosigkeit auch natürliche, d.h. ökologische Grenzen. Freihandel und Marktausweitung sind unweigerlich mit Wirtschaftswachstum verbunden (Wachstumszwang). Dies geht aber auf Kosten der Ökologie, die immer stärker ausgebeutet wird. Wenn wir wegen der Zölle über Reibungen im globalwirtschaftlichen Getriebe klagen, müssen wir bedenken, dass eine reibungslose Weltwirtschaft uns weiter auf den ökologischen Kollaps zuführt. In diesem Sinne hat Mathias Binswanger im besagten Blick-Interview ebenfalls auf sinnvolle Handelsbegrenzungen und Zölle hingewiesen. Der globale Agrarfreihandel forciert beispielsweise die industrielle Landwirtschaft und steht einer ökologischen, lokal orientierten Landwirtschaft im Weg. Ein solcher Protektionismus würde dann weniger im Dienste der Gewinnmaximierung, sondern mehr in jenem der Umwelt- und Ernährungssicherheit stehen. (Siehe auch M. Binswanger 2008)

Will heissen: Wir kommen nicht darum herum, zu differenzieren. Was zugleich eine Entschuldigung sein soll, dass die Antwort auf die kurze Frage etwas länger geraten ist.

Quellen:

Binswanger, Hans Christoph (2016): Die Wirklichkeit als Herausforderung. Grenzgänge eines Ökonomen. Murmann, Hamburg. Link

Binswanger, Mathias (2008): Globalisierung und Landwirtschaft. Mehr Wohl­stand durch weniger Freihandel. Diskussionspapier. Hochschule für Wirtschaft FHNW. Link

Blick, 05.04.2025: «Wahrscheinlich geht Trumps Rechnung kurzfristig auf». Interview mit Mathias Binswanger von Lino Schaeren. Link

Marks, Stephan (2024): Scham. Eine tabuisierte Emotion, 2., völlig überarbeitete Neuausgabe, Patmos, Ostfildern.

Vielen Dank für diese vielschichtige Antwort, besonders der letzte Abschnitt kam für mich unerwartet. Und 'Psychologie der Scham' wird besorgt!

bouquets/bouquet2.webp

Herzlichen Dank für die genaue und informative Antwort.

Redaktion

Brunnmattstrasse 3
CH-4053 Basel
+41 78 847 76 51
[email protected]


Sozial

LinkedIn

Ansprechpersonen


Medien

Tages Anzeiger, Blick

Partnerschaften

Schweizerischer Nationalfonds

Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften

Gebert Rüf Stiftung

Beisheim Stiftung

Ernst Göhner Stiftung

Mehr Wissen für mehr Menschen.

© savoir public 2024